Die aktuelle Diskussion um Corona-Restriktionen und innerdeutsche „Risikogebiete“ ist für mich vieles, aber vor allem ein „ermüdender Aufreger“. Möge man die Sinnhaftigkeit von Masken und Abstand diskutieren, möge man Sperrstunden und Alkoholverbot befürworten, möge man den ersten Stadionbesuch bei RB feiern oder Kopfschütteln darüber haben, möge man altbekannte Hygieneregeln als neu beklatschen… whatever. Dass ich den Lockdown in Deutschland nicht miterlebt habe und mich deswegen dazu schlecht äußern kann, ist die eine Seite. Doch ich erlebe seit einigen Tagen immer wieder Menschen in einer Stadt, denen es an Empathie und Respekt im Umgang miteinander missen lässt. Und das macht mich traurig, denn an genau den kleinen Punkten des Alltags wird es doch deutlich, ob wir in der Lage sind, rücksichts- und verständnisvoll, empathisch und freundlich miteinander umzugehen und in Gesellschaft zu leben.
Dass immer wieder angedeutet wird, die steigenden Zahlen und das Missverhalten Einzelner könnte zu einem neuen Lockdown führen, macht mich noch genervter (bin mir nicht sicher, ob dieses Wort das wirklich treffende ist…), haben doch vereinzelte Studien gezeigt, dass die Isolation und das „Weggesperrtsein“ einzelner Menschen in Zimmern, Wohnungen und Wohnheimen vor allem psychische Erkrankungen befeuern kann. Auch das Ringen ganzer Berufsgruppen um die wertschätzende Anerkennung ihres Schaffens – und dabei denke ich nicht nur an Sänger und Musiker – ist Spiegel einer Gesellschaft.
Die Corona-Restriktionen und der Umgang mit diesem „Phänomen“ ist eines definitiv: polarisierend und gefühlt eine „never-ending-story“. Vor einigen Tagen fiel mir ein alter Artikel über „Einsamkeit“ in die Hände, den ich vor 11 Jahren veröffentlichen durfte und der an einigen Punkten passt zu „Sperrzonen in Corona-Zeiten“. Ja, er ist etwas älter und an manchen Punkten hätte ich heute gern selbst den Rotstift angesetzt ;-). Doch ungeachtet dessen hat er mich erneut nachdenklich gestimmt über das Alleinsein, das Verlassensein, das Nichtgesehensein, das Einsamsein. Wer mag, lese ihn gern (in leicht gekürzter Variante):
„Zusammen ist man weniger einsam“ (2009, erschienen in der MATipp 4/2009)
„Jeden
Morgen eines Arbeitstages beginne ich mit einem Kaffee in der Hand an meinem
Schreibtisch. Ich sortiere die Papierstapel um, welche ich bearbeiten müsste,
in der Hoffnung, dass sie kleiner würden. Dann lege ich mir meinen Kalender als
auch alle Unterlagen parat und schalte meinen Laptop an. Während er noch
hochfährt, vernehme ich schon den vertrauten Begrüßungston von „skype“ und sehe
bei „icq“, wer gerade online ist. Wie gewohnt, gehe ich „online“, logge mich in
meinen Emailaccount, wühle mich durch Spam und Co., um anschließend meinen
„Facebook“- sowie „Meinvz-account“ aufzurufen. Ich schaue mir dort die Bilder
der letzten Israelreise an, prüfe ob mich jemand neu hinzugefügt hat und
schreibe an verschiedene Pinnwände. Im Hintergrund läuft eine viel gehörte
Wiedergabeliste von „Youtube“ und der Tag hat einen wunderbaren Anfang
genommen. So früh ist kaum jemand, meiner Freunde online und so beginne ich
meine Arbeit – währenddessen im Hintergrund meines Bildschirms der
„Freundeskreis“ langsam zum Leben erwacht.
Heute
birgt mein Schreibtisch eine nicht alltägliche Herausforderung: einen Artikel zum Thema „Einsamkeit“ zu schreiben.
Sofort höre ich innerlich ein Lied von „Polarkreis 18“ „allein, allein“ und vor
meinem inneren Auge zieht der Film „Zusammen ist man weniger allein“ vorbei.
Ich frage mich, was Alleinsein und Einsamkeit bedeuten. Herrscht letztere dann,
wenn ich allein bin? Ist das etwas, was nur ich fühle oder merken meine
Einsamkeit auch andere? Und wo bin ich eigentlich einsam? Ich bemerke, dass
Einsamkeit scheinbar von allen als etwas Negatives gedacht wird, und frage
mich, wie wohl die andere Seite dieser Medaille aussehen könnte. In all meinem
Fragen beginne ich fast automatisch, das Internet zu durchforsten.
Den
Begriff „Einsamkeit“ googelnd, stoße ich zunächst auf psychologische Hilfsforen
und erst ein paar Klicks später auf eine allseits genutzte
Internet-Enzyklopädie. Diese formuliert „Einsamkeit“ als ein menschliches
Gefühl, von anderen getrennt und abgeschieden zu sein. Weiterhin führt diese
Seite aus, dass Einsamkeit als Synonym für soziale Isolation verwendet werden
kann oder als Bezeichnung einer persönlichen Auffassung, an einem Mangel an
sozialen Kontakten zu leben. Da habe ich vermutlich das Grundproblem entdeckt,
„Einsamkeit“ fassen zu wollen. Jeder fühlt sie anders und somit ist sie nicht
von außerhalb mess- oder definierbar. Dann bleibt immer noch die Frage nach dem
Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Allein sein und einsam sein
sind zwei Paar Schuhe. Auch hier ist die Grenze eine subjektiv gefühlte.
Einsamkeit und Alleinsein wird schnell verwechselt, denn nicht jeder, der allein
ist muss sich zwangsläufig einsam fühlen. Alleinsein kann wohltuend oder
bestrafend erlebt werden. Einsamkeit beherrscht uns dann, wenn uns ein Gefühl
von Ausgeschlossensein und Verlassensein beschleicht. Die Diplom-Psychologin
Dr. Doris Wolf teilt Einsamkeit in drei Phasen: die momentan, vorübergehende
Einsamkeit, der langsame Rückzug und die chronische Einsamkeit. (http://palverlag.de/Einsamkeit.html)
Der
geschichtliche Siegeszug der Einsamkeit beginnt mit der Industrialisierung.
Hier entsteht etwas Einzigartiges: die bürgerliche Gesellschaft und die daraus
resultierende bürgerliche Familie. Man beginnt den Rückzug in das Häusliche, in
das Private. Mit diesem Gang aus der Öffentlichkeit starteten die Menschen den
Weg in die Einsamkeit. Die einsetzende Industrialisierung, gekennzeichnet durch
menschenablösende Maschinen in immer größeren und unpersönlich werdenden
Fabriken, unterstrich den Rückzug in die familiäre Enge und die Individualität.
Nicht nur, dass die Familie privater und eingegrenzter wohnte, auch
entwickelten sich in dieser Zeit neue Familienbande und die „Jugend“ entstand.
Nun gab es eine Zeit zwischen Kindsein und Familie gründen – eine Zeit, in der
es galt, einen Beruf zu erlernen und diesen auszuüben. Die allgemeine
Schulpflicht wurde eingeführt, und so erlebte der Nachwuchs geschichtlich das
erste Mal das Getrenntsein von der Familie und das „Allein-unterwegs-sein“ in
Schule und anderen Menschengruppen. Hier verlor das Vertraute. Seit dieser Zeit
lässt sich die zunehmende Individualisierung verzeichnen, welche bis heute
nicht stoppte und sich zum Problem entwickeln kann.
Besonders
in Kunst und Literatur wird auf die Rückseite der „Einsamkeits-Medaille“
geblickt. So schrieb schon Friedrich Nietzsche: „Die Einsamkeit macht uns
härter gegen uns und sehnsüchtiger gegen die Menschen, in beidem verbessert sie
den Charakter.“ August von Platen sieht nur in der Einsamkeit den Vollgenuss
des Lebens. „Wenn du der Einsamkeit begegnest, hab keine Angst. Es ist die
beste Gelegenheit, mit sich selbst Freundschaft zu schließen“, führt ein
unbekanntes Sprichwort aus. Rainer Maria Rilke knüpft die Bande zwischen
Einsamkeit und Liebe: „Darin besteht die Liebe; dass sich zwei Einsame
beschützen und berühren und miteinander reden.“ Die Aufklärung wertet
Einsamkeit zumeist positiv, denn hier entzieht sich der Mensch dem hektischen
Alltag und versucht sich auf sich selbst zu besinnen. Caspar David Friedrich,
Vincent van Gogh, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Robert Schumann,
Jean Sibelius, Edward Hopper – Meister der Einsamkeit. Und nicht zuletzt wendet
sich Hermann Hesse in seinen Werken „Demian“ und „Siddartha“ der Ambivalenz von
Einsamkeit und Gemeinsamkeit zu.
Schon
Erasmus von Rotterdam stellte fest, dass „eine große Stadt große Einsamkeit“
bedeutet. Aber der Mensch als solcher ist doch nicht für die Einsamkeit
geschaffen. So formulierte auch Johann Gottlieb Fichte weise: „Der Mensch ist
bestimmt, in der Gesellschaft zu leben. Er soll in der Gesellschaft leben. Er
ist kein ganz vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isoliert
lebt.“ Wir sind also alle geschaffen als Beziehungsmenschen, und die
Gesellschaft, in welcher wir leben, lässt es nicht zu, dass wir keine
„sozialen“ Kontakte haben. Das heißt im Umkehrschluss, dass niemand „a-sozial“
ist oder leben kann ohne einen anderen. Ständig befinden wir uns in
Gesellschaft, sei es in vertrauter oder fremder – öffentlich Linienbusfahrende,
Hausbewohner, Autofahrende in einer Stadt, Zoobesucher, Geburtstagsgäste,
Einkaufende, Betende, Feiernde, Wartende. Sie alle befinden sich in
Gesellschaft, und selbst ein Eremit kann in letzter Konsequenz nicht ganz
allein leben, denn er bedarf der Spende.
Wenn also
niemand allein auf einer Insel leben kann – denken wir an Robinson Crusoe –
warum fühlen sich dann ausgerechnet in dieser hoch vernetzten, globalisierten
Welt so viele Menschen einsam? Ständig umgeben uns Menschen, ständig sind wir
in Kommunikation – nicht zuletzt besonders die Generation „facebook“, „myspace“
und „vz“. Es stehen uns heute so viele Möglichkeiten der Kommunikation zur
Verfügung und sie bieten uns eine
neuartige Form der Verbindung. Mittlerweile sind diese neuen Wege
alltäglich, gewohnt, vertraut. Und doch erleben gerade heute so viele Jugendliche
Einsamkeit. Ich selbst gehöre dieser
Generation an, und so wage ich die kühne These, dass gerade in dieser
wahnsinnig einfachen, leichten Kommunikation der Knackpunkt der Einsamkeit
liegt: die Oberflächlichkeit. Von der anderen Seite betrachtet heißt das, dass
die Tiefgründigkeit der hohe Preis ist, den wir für dieses riesige soziale Netz
zahlen. Da fällt mir ein Gespräch mit meiner Oma ein, welche erzählte, dass sie
es, als sie jung war, geliebt hat, Briefe zu schreiben und zu bekommen. Wie
erfüllend sie es erlebte, nach den richtigen Worten zu suchen und wie spannend,
den Brief abzusenden. Dieses Warten, dieses Aushalten des Antwortbekommens,
diese Vorfreude auf den Rückbrief, diese Einsamkeit während des Wartens – alles
Empfindungen, welche ich schwerlich nachvollziehen kann. Heute kann jeder
schnelle Worte formulieren und flotte Antworten kriegen.
Für viele
Menschen unserer Gesellschaft ist Einsamkeit ein Problem, doch für Jugendliche
besonders. Sie befinden sich auf der Suche nach einer sozialen und persönlichen
Identität, fragen nach dem, was wichtig und wesentlich ist. „Sie verkörpern
offenkundiger als andere Altersgruppen in ihrem Erscheinungsbild und in ihren
Verhaltensweisen sozialen und kulturellen Wandel, aber auch den Widerspruch:
zur Familie, Schule, zur gegebenen Gesellschaftsordnung, zu überkommenen Normen,
Werten, Sitten und Bräuchen.“ ( Schäfers 1989) Nicht nur, dass Jugendliche nach
sich selbst suchen und fragen, die Gesellschaft teilt sie auch noch ein: in
bürgerliche und bäuerliche Jugend, in Sonderschüler, Gymnasiasten, Studenten,
Bundeswehrangehörige, in Ausländerjugend und Jugend in Obdachlosigkeit, Jugend
in städtischen Problemgebieten, Vereins- und Verbandsjugend und Rocker etc.
Unnötigerweise verschiebt sich auch noch die Jugendphase mit der Verlängerung
der Ausbildungszeiten und dem längeren Verweilen in der Herkunftsfamilie. So
sind sie in letzter Konsequenz mit 25 zwar jung und erwachsen, jedoch mündig
ohne wirtschaftliche Grundlage. In aller gesellschaftlichen, familiären und
bildungspolitischen „Verwirrtheit“, in aller Fremdbestimmtheit und allen
erlittenen Misserfolgen, in aller Unsicherheit und Desorientierung, in Rollen-
und Statusproblemen, möglicher Arbeitslosigkeit und Angst vor der Zukunft
versuchen Jugendliche sich vom Elternhaus abzulösen und die außerfamiliären
Beziehungen gewinnen an Bedeutung. Es entsteht eine „neue Unübersichtlichkeit“
(Habermas 1985) sowie eine Gleichzeitigkeit von Resignation und Protest. „Die
Erwachsenen fordern von Jüngeren vor allem, dass sie bürgerliche
Leistungstugenden (Fleiß, Pflicht, Disziplin etc.) übernehmen und den Angeboten
der Konsumgesellschaft stärker widerstehen. Auch legen die Älteren Wert auf
gute Umgangsformen der Jüngeren. Diese wiederrum bevorzugen eher informelles,
spontanes Verhalten und fordern mehr Toleranz und Offenheit“. (Baacke) Jugendliche
stehen vor der schwierigen Aufgabe, sich selbst in einem gesellschaftlichen
System zu verorten, welches fordert und wirbt. Mode, Konsum und Medien
beeinflussen stärke als mittelbare Institutionen wie Familie, Schule oder
Berufsgruppe. Stars verkörpern Provokation, Auffälligkeit und Coolness. „Es
sind die Medien, die den Stoff besorgen, aus dem die Individualität gemacht
wird.“ (Baacke) Hier können sich Jugendliche bewusst zu den Traditionen
abgrenzen, aber hier lauert auch die Einsamkeit. In vorhandenes Leben werden
neue Tätigkeiten und Sinn-Orientierungen implantiert und damit kommt das
Alleinsein, obwohl jemand im Netz das gleiche tut, der aber eben nicht neben
einem sitzt.
Einsamkeit
ist ein Gefühl, welches jedem Menschen vertraut ist; jeder kann und wird anders
damit umgehen. Es gibt kein „Allgemeinrezept“ aber doch einige Anregungen zum
Umgang mit diesem beklemmenden Gefühl. Wer beginnt zu reden, zu klagen, sich
auszudrücken, beginnt auf eine eigene Art und Weise, sich auf den Weg aus der
Einsamkeit zu begeben. Diese Klage, dieses Rufen, dieses Schreien braucht ein
Gegenüber – sie es aus vertrauten Freundes- oder Familienkreisen oder fremden
Chatpartnern, denn sicher wird auch das „Internetgegenüber“ reagieren. Jeder
sollte sich das Gegenüber suchen, das ihm gut tut. Ein Gegenüber, das einen
ernst nehmen und zuhören kann. Einen anderen Sichtpunkt liefert Arthur
Schopenhauer: „Ein Hauptstudium sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen,
weil sie eine Quelle des Glückes und der Gemütsruhe ist.“ Hier eröffnet die
Beschäftigung mit der Einsamkeit ein Feld des Lernens. Der Umgang mit ihr führt
möglicherweise zu einer persönlichen Reife, welche dann neue Wege eröffnen
kann. Wenn sich der Mensch mit sich selbst auseinandersetzt, dann ordnet er
sich auch neu und hebt den Blick für andere Perspektiven.“