September 25th – Leipzig

Gestern abend hatte ich das große und bewegende Vergnügen, nach gefühlten unendlichen Ewigkeiten ein Konzert zu besuchen. Unter dem Titel „Lebenszeichen“ gestalteten sechs a capella-Gruppen einen herz-wärmenden Abend, der unterstrichen wurde von zwei Lebenszeichen aus Theater und Lyrik – nachzuhören beim MDR.

Das Corona und „die Krise“ Auswirkungen auf uns alle hat, ist schnell gesagt. Ein wenig lapidar vielleicht und schlichthin, doch sich von „Seele zu Seele“ zu begegnen, wie es Wolfram Lattke in der Schlussmoderation beschrieb, ist für mich essentiell und lebendiges Gefühl, ist Bildung und Gegenstück, ist Nachdenken und Anstoßen, ist Weinen und Lachen und Fallen lassen, ist Fühlen und Abtauchen und Konfrontation, ist Schreien und Schweigen und Brechen und Anfangen… Darum braucht es Kunst in jeder Form. Herzen und Seelen bewegen, in einem Moment, in einem besonderen Moment, wie in einem Moment gleich dem gestrigen. Und darum gilt es zu musizieren, zu schreiben, zu singen und zu tanzen, zu klatschen und zu fühlen, darum „spielen wir und schreiben wir“…

Als Sophie Lutz gestern den Text von Thomas Brasch „Warum spielen“ vortrug, kam mir dieser Gedanke. Ich las ihn heute wieder und wieder und komme immer mehr dazu, das „spielen“ mit „schreiben“ zu ergänzen. „Warum spielen – warum schreiben“:

Warum spielen (Thomas Brasch)

Um diese Frage überflüssig zu machen/um eine Gegenwelt herzustellen/um die Träume von Angst und Hoffnung vorzuführen einer Gesellschaft, die traumlos an ihrem Untergang arbeitet/ um die Toten nicht in Ruhe zu lassen/ um die Lebendigen nicht in Ruhe zu lassen/ um Wurzeln zu schlagen/um Wurzeln auszureißen/um Geld zu verdienen/um ein Lebenszeichen zu geben/um einen Tod anzuzeigen/um eine Erfindung zu machen/um nicht arbeiten gehen zu müssen/um Arbeit zu haben/um den tiefen Schlaf einer erschöpften Gesellschaft mit Fratzen zu erschrecken/um nicht einzuschlafen/um nicht aufzuwachen/um das Vergessene zu töten/um nicht allein zu sein/um eine Zeremonie aufzuführen in einer Zeit ohne Zeremonien/um keine Verantwortung zu haben/um auszulöschen, was ICH genannt wird/um zusehen zu können/um den Pathos solcher Antworten zu entgehen/um die Rollen zu wechseln/um Lügen zu verbreiten/um vom Blick einer erfüllten Liebe gestreift zu werden und vom Blick der Wut/um den Kapitän wieder einmal endgültig am den Mast zu nageln/um einer Frau unter einem Vorwand und ohne Folgen an die Wäsche greifen zu können/um herauszufinden, wer das Kind erschossen hat, das schrie: Der Kaiser ist nackt/um zu schreien: der Kaiser ist ja nackt/um nicht reden zu müssen/um nicht schweigen zu dürfen/um die Regeln der Schwerkraft außer Kraft zu setzen/um aus der Welt ein Theater zu machen aus Stein, Holz, und Gittern/um drinnen und draußen zu sein zu gleicher Zeit/um einen Umweg zu finden/um Täter und Opfer zu sein zu gleicher Zeit/um Mann und Frau zu sein zu gleicher Zeit/um in diesem endlosen Vorkrieg nicht zu ersticken/um über einen Sterbenden lachen zu können/um die Geister zu bannen, vor den Türen und unter dem Tisch: Hilfe, ich lebe/um diese krachende Stille nicht aushalten zu müssen/um herauszufinden, wie lange einer ausgehalten wird von Leuten, die sich genauso wenig für ihn interessieren wie für sich selbst/um nicht angestellt zu sein/um vergessen zu werden/um die Frage überflüssig zu machen: Warum spielen/um zu spielen/