Ich schlage die Augen auf und schaue auf mein Handy: 5.34 Uhr. Ich hatte gehofft, dass ich mal eine Nacht durch- oder längerschlafen könnte, doch mein innerer Hundewecker tickt noch immer.

Sie liegt neben mir und starrt mich an: „Lass uns einfach liegen bleiben. Wir ziehen die Vorhänge zu, machen uns einen Hobbit-Film an und warten, bis der Tag vorbei ist.“ „Das geht nicht“, antworte ich ihr und schlage die Bettdecke zurück, „ich muss aufstehen.“

Ich lasse meine Beine kurz an der Bettkante baumeln, wie ich es immer getan habe, damit Rumo voller Freude über den neuen Tag meine Füße abschlecken konnte – er war ein Fußfreund! Dann seufze ich leise und stehe auf, wackle in die Küche, schalte den Wasserkocher an und greife zur Kaffeedose. „Ich mag nicht rausgehen“, sagt sie neben mir und versucht mich, wieder ins Bett zu locken. „Du hast doch Urlaub, lass uns einfach wieder hinlegen.“ Sie zieht leicht an mir, doch heute gebe ich ihr nicht nach. „Ich schmiere ein paar Brote für später, packe meinen Rucksack und dann gehe ich los. Du kannst ja hierbleiben, wenn du möchtest.“ Fast vorwurfsvoll setzt sie sich neben meinen Rucksack in den Sessel von Rumo und wartet, bis ich alles eingepackt habe. „Das ist doch sinnlos“, klagt sie. „Er ist doch eh nicht mehr da und diese Seenwanderungen sind doch einfach sinnlos ohne ihn. Das wolltest du doch mit Rumo machen!“ „Ja“, reagiere ich leise, „für mich fühlt es sich auch sinnlos an und zäh und anstrengend und ich mache es trotzdem. Und vermutlich willst du mit?“ Sie nickt und wir beide schlurfen zum Auto.

Sie sitzt immer hinten rechts auf den Decken, die noch nach Rumo riechen und auf denen noch seine Haare heften. Sie starrte aus dem Fenster und sagt keinen Ton mehr. Inzwischen habe ich das Hörbuch angeschaltet und wir fahren durch den Morgen. Siebenundzwanzig Seen hatte ich zum Jahresbeginn 2023 ausgesucht, um die ich mit Rumo wandern wollte. Manche von ihnen gehören dem diesjährigen „run the lake“ an, die anderen sind einfach unbekannt für mich. Sie sind alle mehr oder weniger im Neuseenland um Leipzig verstreut und ich dachte zum Jahresbeginn, dass das eine schöne Challenge für mich und das Rübchen sein könnte. Im Januar hatte ich eine Karte gemalt und an einer meiner Türen gehängt und nach jeder geschafften Wanderung wollte ich den jeweiligen See ausmalen, bis die ganze Karte farbig sein würde. „Wieso machst du das?“, fragt sie leise vom Rücksitz aus. Ich antworte ihr: „Weil ich es durchziehen muss. Ich habe es Rumo versprochen und mir auch.“

Am Montag vor sieben Wochen hatte sie einfach in meiner Küche gesessen. Sie sei jetzt hier und auf meine Frage, wie lange sie bleiben würde, hatte sie mit den Schultern gezuckt und etwas gemurmelt von, so lange, wie es eben dauern würde. „Ich habe kein Zimmer für dich und auch keinen richtigen Platz“, hatte ich ihr damals gesagt, doch das war ihr egal. Sie würde eh alles mit mir teilen, da sei ihr alles andere wumpe.

Am Parkplatz des Seelhausener Sees angekommen, hucke ich meinen Rucksack auf, verschließe das Auto und starte meine Komoot-App. Auch heute würde ich die Runde tracken – das mache ich jedes Mal. Ich sage ihr, dass ich heute im Uhrzeigersinn den See umlaufen möchte – ihr ist es wumpe, meint sie. Ich laufe los, sie schlurft neben mir.

„Weißt du noch, wie er immer gleich losgeflitzt ist und es kaum aushalten konnte, alles anzuschnüffeln? Und wie er manchmal, wenn es ihn gerappelt hat, um dich rumgefetzt ist, als hätte ihn der Hafer gestochen? Und wie er ab und an ganz brav neben dir gelaufen ist, um ein Leckerli für das gute Beifußgehen zu erhaschen und dann wieder losgefegt ist, wenn er es bekommen hatte?“, fragt sie mich.

Ja, ich weiß das alles und die Tränen laufen mir über die Wangen, tropfen auf meine Schulter, meinen Hals, laufen und laufen und laufen. Ich beginne innerlich zu zählen: 1-2-3-4, um nicht wahnsinnig zu werden. 1 – Schritt, Schritt, 2 – Schritt, Schritt, 3 – Schritt, Schritt, 4 – Schritt, Schritt, 1 – Schritt, Schritt, 2 – Schritt, Schritt… meine Beine übernehmen den Takt. Zu Zählen habe ich vor einigen Jahren im Kloster gelernt. Die buddhistische Meditation schlug das Zählen vor, um den Kopf frei zu bekommen und die Gedanken ziehen zu lassen. Der Zen-Meister hatte damals das Zählen bis acht und dann von vorn vorgeschlagen; über die Zeit habe ich für mich gemerkt, dass mir das Zählen bis vier hilft. Da komme ich in einen Trott, in dem ich das Tempo halten und die Gedanken manchmal fliegen lassen kann. 1-2-3-4-1-2-3-4-1…

Nach den ersten Kilometern entlang des Asphaltweges, gelangen wir an eine Kreuzung, ich schaue kurz auf meiner App, welchen Weg ich weitergehen mag und sehe, dass wir schon eine Stunde unterwegs sind. Ich wähle den Feldweg und zähle innerlich weiter. „Der Weg hätte Rumo auch gefallen“, sagt sie mir zustimmend und schlurft weiter neben mir mit hängendem Kopf. Sie sieht den See nicht, sie schaut nur auf ihre Füße und die Steine auf dem Weg. Manchmal versuche ich sie und ihre Fragen zu ignorieren, mich nur auf mich zu konzentrieren, doch dann nimmt sie meine Hand und sagt, das gehe so nicht. Manchmal schreie ich sie an, sie solle weg gehen und mich in Ruhe lassen, sie solle zum Auto gehen und dort warten; sie hört sich alle Beschimpfungen an, lässt meine Wut über sich ergehen und dann laufen wir beide weiter und die Tränen kullern uns beiden. „Ich bin doch jetzt da“, flüstert sie mir zu und ich weiß, dass sie recht hat. „Du brauchst einen Platz“, sage ich ihr, „du kannst nicht immer und überall dabei sein. Du brauchst einen Platz, damit wir beide auch mal Pause voneinander haben.“

Seitdem sie am 12. Juni eingezogen ist, habe ich mir ihr gemeinsam nach einem Platz für sie gesucht: im Erzgebirge, am Zwenkauer See, in meiner Wohnung, am Kulkwitzer See, im Büro…. Doch ich habe das Gefühl, wir suchen weiter. Und ich habe keine Ahnung, wie lange das noch dauern wird.

Inzwischen schmerzen meine Füße, die Sonne knallt auf meinen Kopf, der Schweiß läuft über meinen Rücken – 1-2-3-4- und ich entschließe mich, eine Pause zu machen. Wir haben einen kleinen Sandstrand erreicht und ich lasse meine Klamotten in den Sand fallen und springe ins Wasser. Eiskalt umspült es mich, wäscht alles ab und hüllt mich ein. Ich tauche ab, immer und immer wieder, mindestens vier Mal. Ins Wasser geht sie nie mit, sie sitzt immer neben meinem Rucksack und wartet geduldig auf mich – so, wie es Rumo auch oft gemacht hat. Manchmal bleibe ich länger im Wasser, um nicht gleich wieder neben ihr zu hocken, tauche noch vier Mal ab. …

Als ich appetitlos mein Frühstück neben ihr kaue, schauen wir beide auf die Wellen. Es macht uns beide ruhig – ein bisschen wie der Effekt von Lagerfeuer und Glut, in welches ich auch Stunden schauen könnte. In diesen ruhigen Momenten gelingt es uns, ohne Tränen an Rumo zu denken, wir tauschen Geschichten über den Hundemann und sind dankbar über alle Zeit, die wir miteinander hatten. Dann liegt ein dankbar-erinnerndes Lächeln auf meinem Gesicht und ich fühle sein Fell an meinen Beinen.

„Wir werden deswegen auch morgen wieder laufen“, sage ich ihr, „genau für diese Momente, in denen sich die Dankbarkeit zu uns beiden setzt. Verstehst du das? Ihr braucht beide einen Platz – die dankbare Erinnerung und du.“

„Ich verstehe das“, antwortet mir die Trauer und dann stehen wir beide aus dem Sand auf und laufen weiter.