Neben meinem Elternhaus wachsen Haselnussbüsche. Seit ich denken kann, stehen sie dort. Um in die Äste zu gelangen, stapfte ich als Kind regelmäßig über den Wäscheplatz hinter dem Haus, hangelte mich am Gartenzaun und dann die Bachmauer hinunter, ein kleiner beherzter Schritt und wenige Meter nach oben kraxeln und dann saß ich in den Zweigen der Büsche dort. Als kleine Susann liebte ich es, in diesen Sträuchern zu sitzen, über Gott und meine Welt Affalter nachzudenken, Nüsse zu knacken, mich zu verstecken, den Blättern zu lauschen und einfach zu sein. Manchmal kicherte ich, wenn die Nachbarn auf dem Gehweg vorbei liefen, ein Geräusch hörten, jedoch nicht verorten konnten, woher es kam. Es waren schöne, friedliche Momente – keine Ahnung, ob dort ab und an auch heute noch jemand sitzt. Empfehlen kann ich es auf jeden Fall!
Durch Zufall erinnerte ich mich vorletzten Sonntag wieder an diese schönen Momente. Ich besuchte mit Freunden die Generations Church International in Leipzig – kurz vor Ostern hatten sie mich schon mal mitgenommen. Schon beim ersten Besuch hatte mich die Ansprache noch einige Tage beschäftigt und ich hatte es sehr gemocht, denn es war mir schon lange nicht mehr so mit einem Gottesdienst ergangen. Auch die letzten Tage hängen mir die Gedanken der Andacht noch nach.
Es ging im Zachäus. Ein äußerlich kleiner Mann muss er gewesen sein und in Jericho hat er gelebt. Vor 2000 Jahren waren Teile Israels von den Römern besetzt, die wiederum Menschen einsetzten, um ihre Interessen zu vertreten und durchzusetzen. Manche Ämter konnte man sich sogar ersteigern. Und vielleicht hatte sich Zachäus seinen Job als Steuereintreiber und Zöllner auch ersteigert; vielleicht hatte er viele Münder zum Durchfüttern; vielleicht sehnte er sich auch nach finanzieller Sicherheit und das Geld hatte gelockt. Er hatte es zum Chef der Zöllner geschafft und galt somit als „Reicher“. Was die Geschichte auf jeden Fall erzählt, ist, dass die Bewohner Jerichos Zachäus nicht mochten. Und so war es nicht verwunderlich, dass er keinen guten Stand unter den Leuten hatte. Als Jesus eines Tages nach Jericho kommt, rennen die Menschenmengen auf die Straßen, um ihn zu sehen. Einmal diesen Jesus anschauen, vielleicht anfassen, austesten… wie auch immer: Zachäus wollte auch. Doch er war klein von Gestalt und ich stelle mir vor, dass ihn keiner nach vorne ließ. Er klettert deswegen in einen Maulbeerbusch und schaut von oben und wartet mit der Menge. Und als Jesus an dem Baum vorbei kommt, sieht er Zachäus und sagt sinngemäß: „Ich lade mich heute bei dir ein! I’m coming to your house today!“ Und Jesus kehrt ein und Zachäus verändert sein Leben… Soweit die Geschichte.
Was mir vor allem seit diesem Sonntag nachgeht, ist der Gedanke, den Pastor Taylor hatte: die Geschichte strotzt und sprüht von Gastfreundschaft! Ja, richtig, Gastfreundschaft. Alle bisher gehörten Predigten hingen sich an den gesellschaftlichen Themen auf: Arme und Reiche, Privilegierte und Gläubige, Diener der Besatzer und Besetzte – immer ging es in meinen Ohren um das Spaltende. Und Jesus kommt und kehrt den „Abtrünnigen“ um. Manchmal hingen sich die Predigten an der Verlorenheit Zachäus auf; dieser Mann, der so viel Sünde hat und ausgerechnet bei dem kehrt Jesus ein. Und in einem ganz merkwürdigen Moment forderte mich ein Predigender auf – und freilich auch alle anderen Zuhörenden – besonders die „Abtrünnigen“ zu besuchen. Das hatte damals einen fahlen Beigeschmack, denn es spaltete wieder. Dieses Mal in Rechtschaffene und Sünder. In keiner der Predigen über Zachäus konnte ich bisher andocken; doch Pastor Taylor gelang es, mich mit dem Gedanken der Gastfreundschaft zu catchen.
Was ist Gastfreundschaft für dich?
Ist Gastfreundschaft, die eigene Tür zu öffnen? Vielleicht für geladene Gäste? Ein bestimmter Tag, eine verabredete Zeit. Sich hübsch zu machen, die Wohnung auf Vordermann zu bringen, was Leckeres zu kochen bis sich der Tisch biegt, Blümchen zu kaufen und Duftspray einladend im Flur zu verdieseln? Und würde ich eigentlich jedem öffnen?
Ist Gastfreundschaft, Salat mitzubringen, wenn ich eingeladen werde? Oder Gastgeschenke? Und wer schenkt eigentlich wem? Oder kommen Gäste mit leeren Händen und gehen mit vollen? Empfängt der Gastgeber mit vollen Händen und steht am Ende mit leeren Händen da?
Ist Gastfreundschaft, Familie und Freunden zu sagen, sie könnten jederzeit klingeln? Oder anrufen? Und wäre ich ein guter gastfreundlicher Besucher, wenn ich dies auch täte?
Und ist Gastfreundschaft, wenn ich mich selbst einlade?
Zu Letzterem sagte Taylor an diesem Sonntag: ja. Und das beeindruckte mich sehr. Mein erster Impuls als „Guterzogene“: ich dränge mich nicht auf, ich lade mich selbst nicht ein, ich lasse den anderen ihren Raum, auf keinen Fall klingle ich ohne vorherige Ankündigung. Mein zweiter Impuls als „Erfahrene“: Menschen mögen Überraschungen nicht; erst recht keine Überraschungsbesucher. Sie könnten sich beschämt fühlen, weil die Kissen auf der Couch durcheinander liegen, das Klo nicht geputzt ist, der Kühlschrank leer und man selbst vielleicht in Jogginghose rumschlonzt.
Taylor sah in der Zachäus-Geschichte eine andere Seite: wenn wir den anderen sehen, vielleicht im Baum, auf der Treppe, bei der Arbeit oder beim Bäcker und wir sehen die Not, die Fragen, die Neugierde, die Sehnsucht des anderen, dann dürfen wir uns selbst einladen und fröhlich sagen: „Ich kehre heute bei dir ein und ich bestelle uns Pizza und ich höre dir zu und ich bin für dich da.“ Und vielleicht schreckt das Gegenüber zusammen und sagt, dass das Klo dreckig ist und die Küche voller altem Geschirr stehe und dann könnten wir sagen: „Alles klar, ich sehe deine Not. Passt morgen?“ „I’m coming to your house“ – und ich bringe mich mit und ich bin für dich da und ich höre dir zu und ich kann dir – nur, wenn du möchtest – auch davon erzählen, was mir Hoffnung schenkt, was mir Freude macht, welcher Glaube mein Herz stärkt und mein Leben frei macht. Und Taylor strahlte am Ende der Predigt und meinte sinngemäß: „Das ist Gastfreundschaft: sich selbst zu denen bringen, die es brauchen. Und vielleicht noch Steak mitbringen und meine Glaubensgeschichte.“
Und ich grinse, wenn ich mich erinnere, wie Taylor vor den Zuhörenden stand und sang: „I’m coming to your house today! Einer von euch hat unter seinem Stuhl einen blauen Klebezettel, sucht bitte.“ Ein paar Plätze weiter, fand eine junge Frau diesen Zettel und Taylor kündigte sich strahlend an: „I’m coming to your house today!“ Und ich sah, wie unangenehm ihr der Gedanke schien, dass er direkt nach dem Gottesdienst mit ihr mitgehen wöllte, vielleicht dachte sie an ihr dreckiges Bad – und ich sah, dass Taylor das auch verstand und er grinste, meinte, dass er Fleisch mitbrächte und sie gerne einen Tag ausmachen könnten 🙂
Als ich am Ausgang auf Taylor traf, kamen wir kurz ins Gespräch. Er weiß um mein Ringen im Glauben, mein Suchen, denn wir hatten schon an anderen Sonntagen miteinander gesprochen. Und er meinte lächelnd, dass er kurz gewünscht hätte, dass ich den blauen Zettel zöge. Ich lachte und sagte, er könne auch so gern mal bei mir zu Hause vorbeikommen – am liebsten verabredet und sehr gern auch in Begleitung seiner Frau.
Heute Abend am Schreibtisch sitzend freue ich mich auf diesen Besuch, diese gemeinsame Zeit, in der wir uns zuhören, begegnen, uns vielleicht von dem erzählen, was unser Herz stärkt und unser Leben frei macht. Vielleicht auch von Geschichten über Gastfreundschaft, Wäscheplätzen und Haselnusssträuchern.