Das neue Jahr ist ein paar Atemzüge alt und der erste Abend klopft leise ans Fenster. Die Sonne verkrümelt sich hinter violett-pink-blauen Wolken, ein paar Verwirrte böllern auf der Straße fast wie zum Silvesterabend. Vielleicht haben sie einfach so viel Knallerwahnsinn übrig, dass er noch ein paar Tage reicht – wundern täte mich das in diesem Kleinstädtchen nicht.
Als ich heute morgen mit meiner Thermoskanne, einer Dose Äpfel und Nüsse und meinem Hörbuch gerüstet meine Neujahrswanderung begann, stockte mir spätestens auf dem Aldi-Parkplatz um die Ecke der Atem: sooooo viel Müll, leere Raketenbatterien so weit das Auge reichte, gespickt mit Raketenstöcken, leeren Fröschen und ausgebrannten Knülpfen, die nicht mehr zu identifizieren gingen. Ein Gedanke schlüpfte mir durch den Kopf: Wer nachts böllert, sollte auch morgens aufräumen 🙂 Das wäre was! Ein Lächeln zauberte mir das Gedanke ins Gesicht als ich in die Schachtstraße einbog und vor mir ein kleiner Junge mit einem riesigen Besen stand. Ich wünschte ihm ein gutes neues Jahr, er grinste zurück und kehrte fleißig weiter den von alten Böllern übersäten Gehweg. „Geht doch“, dachte ich verschmitzt und stiefelte weiter.
Mein Altjahresabend – ja, ich mag dieses Wort – war leise. Nachdem ich ein wenig geschrieben und aufgeräumt hatte, rang ich mit mir, ob ich zur Andacht der Kirchgemeinde gehen sollte. Einerseits hatte ich Sehnsucht nach einem „besinnlichen Ausklang“: also gehen. Andererseits wollte ich mich nicht mit einem Ärger aus dem Jahr verabschieden, den mir manches Mal Andachten oder Gottesdienste bereiten: also nicht hingehen. Den Tag über war ich schon allein daheim, vielleicht könnte ich so noch ein wenig Gemeinschaft erleben: also gehen. Doch so richtig Lust, mich dann durch die Böllerei nach Hause „durchzuschlagen“, hatte ich auch nicht: also nicht gehen. Meine Sehnsucht nach Ausklang gewann letztlich und ich schlang mir den dicken Mantel um und ging zur Kirche. Fünf Minuten vor Beginn der Andacht stand ich vor verschlossener Tür – gibt’s doch nicht: da raffe ich mich auf und dann das. Neben mir ein älterer Herr, der auch die Türklinke drücken wollte; dann wir beide rätselnd vor dem Schaukasten. Nein, wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wir kamen ein wenig ins Gespräch: er kam aus Grünau, sei allein daheim, wollte ein wenig Gemeinschaft zum letzten Abend des Jahres. Ich schmunzle, finde mich so wieder in seinen Gedanken und in diesem Moment spricht uns ein Paar an und lotst uns zum Gemeindehaus, denn dort sei die Andacht. Erleichtert rutschen wir beide in die letzte Reihe des hell erleuchteten und dicht besetzten Gemeinderaumes.
Warm ist es und als ich den Mantel ablege, ärgere ich mich, dass ich mir nichts besseres angezogen hatte. In der kalten Kirche wäre meine Jogginghose mit Sweatshirt wahrscheinlich niemandem aufgefallen – hier steche ich unter den chic gekleideten Menschen hervor 🙂 Naja, was solls, bin halt hier, wie ich bin, denke ich noch, als das erste Lied beginnt.
Es sind warme Minuten, in denen wir altbekannte Lieder singen, ein Psalm und eine Lesung aus dem Alten Testament hören, die ich innerlich fast mitsprechen kann. Ich denke an meine Omi, die das auch locker geschafft hätte und beim Gebet immer ein klein wenig „vornweg“ war. Ich hab sie immer hören können, egal wo sie in der Affalterer Kirche saß. Ich denke an das, was in diesem Jahr war, an das Gelungene und das Verlorene, an das Gefundene und das Verdorrte, an die schönen, fröhlichen, glücklichen Momente mit meinen Lieben, denke an das, was bleiben soll wie es ist, an das was wachsen darf und an das, was das alte Jahr behalten kann. Meine Gedanken schweifen ab, mein Blick wandert über die Menschen um mich, das gebastelte Kreuz in der Ecke, den Weihnachtsstern ganz dicht über meinem Kopf.
Das „Jahresmotto“ 2025 ist mir schon bekannt: „Prüft alles, und behaltet das Gute.“ Mit pädagogischen Fachkräften habe ich diesen Vers schon bedacht, versucht zu erfassen und für einen Gottesdienst im Januar begreifbar zu machen. Auch die letzten Tage haben mich in den Reflexionsfragen der Rauhnächte immer wieder an Punkte des Über-Prüfens gebracht: Was tut mir gut? Was macht mich glücklich? Was tut mir nicht gut und wovon sollte ich mich verabschieden? Woran erkenne ich beides? Und wie geht eigentlich Loslassen? … Vieles habe ich auf den Prüfstand gestellt, auch im hinter mir liegenden Jahr. Nicht zuletzt die Reise nach Neuseeland war ein inneres Überprüfen, Aufräumen, Loslassen und der Versuch, das Gute zu halten. In der Andacht wird der Satz nochmal anders gesagt: „Prüft alles auf Tauglichkeit, und hindert das Gute am Verschwinden.“ Ich stutze inmitten der Worte des Pfarrers. …hindert das Gute am Verschwinden. Wie schön das klingt und wie nah das bei jedem landen kann. Nicht nur bei den Menschen dieser Andacht, nicht nur bei den Mitgliedern der evangelischen Kirche. Das Gute am Verschwinden zu hindern, dazu gehört für mich Mut und Kraft. Mut, für das Gute einzustehen auch in Zeiten der Unsicherheiten und Sorgen, der Angst und Not. Mut, das Gute zu halten, zu behalten, auch hoch-zu-halten. Geduld in Zeiten, die schnell sind und laut und in denen so manches verschwindet. Was taugt dann? Was trägt mich? Was schenkt mir Halt? Wer soll an meiner Seite sein? Wen trage ich? Wer schenkt mir Halt und wem ich?
Auf der Neujahrswanderung hatte ich diese Fragen auch in der Tasche; wie Wegbegleiter und Zeichensetzer auf meiner Runde.
Und vielleicht kann das ein roter Faden 2025 sein: „das Gute am Verschwinden zu hindern“?
Was denkst du?