Als ich vor vielen, vielen Jahren als Lehrerin an einem Leipziger Gymnasium das erste Mal vor einer Klasse stand, sprang mir das Herz abwechselnd zwischen Hals und Hose… Schon damals fielen mir Strukturen des Schulsystems schwer, konnte ich mich mit einer angemessenen Notenvergabe im Religionsunterricht nicht anfreunden, Erwartungsbilder und festgezurrte Normen raubten mir nach und nach Freude und Motivation an der Arbeit und so atmete ich auf, als ich 2012 das System Schule verließ und in einen anderen religionspädagogischen Arbeitsbereich eintauchte.
Seit drei Jahren bin ich nun wieder im System Schule – das liegt an meiner Arbeitsstellenkonstellation. Dazwischen lagen eine Weltreise, viel Berufserfahrung in Wohlfahrtsverbänden und eine Beratungsausbildung. Und irgendwie merke ich nach und nach, dass Vieles immer noch herausfordernd ist in Schule. Etwas Gravierendes hat sich aber verändert. Zum Einen: statt des Rotstifts darf ich nun den grünen Stift zücken um schriftliche Erarbeitungen zu bewerten. Und zum Anderen: meine innere Haltung und meine Perspektive.
Was das meint? Nun, manchmal belächeln mich meine Kolleginnen und Kollegen ein wenig, wenn ich davon erzähle, wie ich versuche, wie ein „weißes Blatt“ in meinen Unterricht zu gehen, die Schülerinnen und Schüler wertzuschätzen und ganz plump gesagt, trotz allem was vielleicht vorher war, sie anzusehen und gern zu haben. Ihnen jede Woche neu eine Chance zu geben, auf Augenhöhe zu kommunizieren und für sich die Welt zu begreifen und zu entdecken. Ihnen den Blick auf ihre eigenen Fähigkeiten und Ressourcen zu ermöglichen.
Ja, dabei geht es in den Stunden freilich auch um Inhalte und Wissensabfragen. Doch versuche ich so oft es geht, Fragen einzubauen, die sie nicht so leicht beantworten können. „Was magst du an dir?“ – „Und was denkst du, schätzen deine Freunde an dir?“ – „Wofür würdest du dir selbst mal kräftig auf die Schulter klopfen?“ – „Was ist dir im Vortrag besonders gut gelungen?“…. Das, was mir immer wieder auffällt: die Jugendlichen kennen ihre Fehler, wissen messerscharf zu benennen, was sie nicht können, sehen das Defizit immer leichter, werden dabei gefühlt immer kleiner… Manche versinken in Selbstzweifeln und das zu erleben, macht mich unglaublich traurig und betroffen.
Wenn ihr die Jugendlichen fragtet, würden sie vielleicht sagen, dass Frau Finsterbusch mit ihren Fragen ganz schön anstrengend ist und ja, vielleicht bin ich für sie „Exotin in ihrem bekannten System“, doch hoffe ich, dass ich nicht allein bin mit Haltung und Perspektive. Dass auch meine Kolleginnen und Kollegen den Wert des Lobens, der Anerkennung und Wertschätzung hochhalten.
Und weil ich Geschichten liebe und sie manches besser auf den Punkt bringen, als ich mit meinen „pathetisch angehauchten“ Worten, hier zum Abschluss eine Geschichte über das Loben von Meike Winnemuth:
Ach, es ist so verdammt einfach, die Welt blöd zu finden. Die Bahn hat schon wieder Verspätung, der Kaffee ist absurd teuer. Und was hat der Typ bloß für ein unmögliches Hemd an! Es gibt nicht wenige Leute, die sich glücklich jeden Tag versauen, indem sie diese schmaläugigen Blicke auf ihre Umwelt werfen, auf der Lauer nach Dingen, die sie ärgern könnten. Das Wetter, das plärrende Kind – nervig. Wir leben in einer Kritikgesellschaft. Bereits in der Schule geht es darum, Fehler anzustreichen. Nicht das Gelingen wird belohnt, sondern das Scheitern bestraft. Läuft was gut, scheint das nicht der Rede wert. Oder wie der Psychiater Fritz Simon sagt: „Nicht geschimpft ist gelobt genug.“
Dass es auch anders geht, habe ich gelernt, als ich für ein paar Monate nach Brooklyn zog. Die New Yorker sind Meister der Komplimente im Vorübergehen. „Great pedicure, Honey“, sagt eine Frau beim Blick auf meine Füße und ist schon um die nächste Ecke verschwunden. „Excellent choice“, meint der Buchhändler, wenn ich ihm den neuen Ian McEwan auf den Kassentisch lege. Dieses dauernde Loben war für mich zuerst ein Schock, die klassisch deutsche Reaktion ein misstrauisches „Was wollen die von mir?“ Antwort: nichts. Die sagen nur, was ihnen gefällt. Und das macht allen gute Laune: Die, denen was Schönes auffällt, freuen sich, die, denen es gesagt wird, noch viel mehr.
Seit Brooklyn habe ich mir angewöhnt, alles Schöne und Gelungene zu loben. Dafür gibt es täglich hundert Gelegenheiten. Einer Supermarktkassiererin sage ich: „Unglaublich, wie schnell sie sind“, einer Frau im Café, was für tolle Schuhe sie trägt, einem Mann im Vorgarten, wie schön seine Rosen sind. Viele reagieren verunsichert, einige fühlen sich fast belästigt, aber die Mehrheit freut sich einfach, so wie ich. Denn erst mit freundlichem Blick auf die Welt stellt man fest, wie großartig sie ist, wie viel täglich klappt, wie schön das Leben in all seinen Kleinigkeiten ist. Das bedeutet nicht, dass ich ständig mit seligem Lächeln durch die Straßen hüpfe. Bitte! Ich bin Norddeutsche! Wir hüpfen aus Prinzip nicht. Aber das genaue Hinschauen (und das tollkühne Aussprechen, wenn man sich über etwas freut) sorgt für ein flauschiges Gefühl der Zufriedenheit, das sonst auf legalem Weg nur schwer zu erreichen ist. Müssen sie mal probieren.