Ich sitze auf der Bank am Rande dieses Abgrunds. Die Lehne ist breit und die Bank aus wunderbarem dunklem Holz. Dieser Platz ist mir bekannt. Schon sehr lange bin ich immer wieder hier, sitze und starre auf das, was vor mir liegt. Oder stehe an der Kante und wage einen Blick in die Tiefe – doch mit Höhe habe ich es nicht so. Dann wird mir meistens schwummrig und die Beine geben nach. So wähle ich fast immer den Platz auf der Holzbank.
Der Platz rechts ist für mich frei gehalten. Nicht, dass ich gerne hier säße und den Abgrund genießen würde. Doch etwas drängt mich immer wieder, diesen Ort aufzusuchen.
Denn dann sitzt sie nicht alleine auf der Bank.
Das kleine Mädchen links neben mir. Ihre Beine baumeln von der Holzbank und ab und an berühren ihre Fußspitzen den Boden. Sie trägt lange Strumpfhosen und einen gestrickten Pullover. Die kurzgeschnittenen, dunklen Haare fallen ihr in kleinen Locken ins Gesicht. Ihre dunkelbraunen Augen strahlen voller Liebe und Neugier.
Wenn ich sie besuche, redet sie nicht viel. Häufig sitzen wir schweigend nebeneinander und schauen gemeinsam in Richtung Abgrund. Fast immer lege ich meinen Arm um sie und sie schmiegt sich an mich. Manchmal darf ich sie etwas fragen.
Einmal hat sie mir verraten, wie groß ihre Lust ist, in die Welt zu ziehen, ein Pony zu haben, so schnell zu sein im Sportunterricht wie die anderen. Sich zu verkleiden und tagelang in der Höhle bei Omi auf der Couch zu bleiben und Märchen zu hören. Wenn sie könnte, würde sie Krankenhäuser abschaffen, dann wäre ihr Opa häufiger zu Hause. Und sie würde ihren Eltern eine Arbeit schenken, wo man nicht so viel unterwegs ist und mehr Zeit hat zum Spielen und Geschichten vorlesen und Pilze sammeln. Und ihr Bruder wäre endlich nicht mehr hinter diesen gelben Glasscheiben in diesem furchtbaren Bett, weil er diese doofe Krankheit hat – er wäre zu Hause und sie würden sich gemeinsam in den Haselnusssträuchern verstecken. Und vielleicht ein klein wenig die Nachbarn ärgern. Sie würden sich im Indianerzelt verkriechen und gemeinsam die Hasen füttern.
Schöne Träume hat sie, wunderbare Wünsche, ganz viel Sehnsucht. Und dann verfällt sie wieder in Schweigen und ihr Blick wandert zurück zum Abgrund. Wie lang sie schon hier ist, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf. Sie weiß es nicht.
Als ich sie einmal frage, was sie hier mache, stutzt sie, rutscht ein Stück von mir weg und schaut mich durchdringend an. „Willst du mich veräppeln? Das weißt du doch!“
Ich schweige eine Weile. „Nein, das weiß ich nicht“, flüstere ich. „Ich mag es nicht, hier zu sitzen und ich finde diesen Ort wahnsinnig trostlos. Und ich habe keinen Schimmer, warum du hier auf dieser Bank sitzt und den Abgrund anstarrst, anstatt in die Welt zu flitzen und das Bunte zu sammeln! Ich habe keinen Dunst, warum ich immer und immer und immer wieder hierherkomme, dich besuche und sich nichts, wirklich überhaupt nichts, verändert!“
„Das stimmt nicht“, antwortet sie leise. „Wenn du hier sitzt, mit mir auf dieser Bank, verändert sich für mich alles.“
Sie senkt ihren Kopf und ich sehe, wie Tränen langsam aus ihren Augen über ihre kleinen Wangen kullern und auf ihren Pullover tropfen. Sie schluchzt nicht, sie gibt keinen Laut von sich. Sie ist so erschreckend still und weint immer mehr. Vorsichtig lege ich meinen Arm wieder um sie und rutsche an sie heran, bis wir wieder ganz dicht nebeneinander sitzen. Nach einigen tiefen Atemzügen fasse ich Mut und sage: „Es tut mir unglaublich leid, doch ich habe wirklich keine Ahnung. Erklärst du mir bitte, was los ist?“
„Heute nicht. Heute kann ich nicht. Kommst du morgen wieder?“
Ich brauche nichts darauf zu sagen, ich nicke stumm. Natürlich werde ich wieder kommen. Ich werde so lange wiederkommen, bis sie anfängt, loszuflitzen und das Bunte zu sammeln.