Gestern Abend telefonierte ich mit einer Freundin. An einem Punkt unseres intensiv-schönen Gespräches philosophierte ich so in den Telekommunikationsraum, dass es doch seltsam verrückt sei, wie diese kommenden Tage im Kalender, diese anstehenden Weihnachtstage, dieses festgeschriebene Datum die Menschen und ihre Erwartungen und ihre Wünsche ver-rücken.

Die Antwort meiner Freundin war eine Schöne, von Axel Hacke in Worten Festgehaltene. Es ist ein Auszug aus seinem Buch „Alle Jahre schon wieder“ und der Text hat mich so nachdenklich gestimmt, dass ich ihn euch keineswegs vorenthalten mag:

„Meine Mutter war, an ihren guten Tagen (wie wir alle an unseren guten Tagen anders sind als an unseren schlechten), wenn sie sich sicher und zu Hause fühlte, das fröhliche, warmherzige, herzliche Mädchen. An ihren schlechten, unsicher und nicht zu Hause, war sie zurückhaltend, beobachtend, ängstlich vor der Welt. Es ging ein Riss durch ihr Leben, ein irreparabler Riss. Und ich hatte immer das Gefühl, ihr Leben lang sei sie damit beschäftigt gewesen, diesen Riss zu kitten, zu schließen. Ihn wegzumachen. Immer stand sie unter Hochdruck deswegen, immer ging sie ein wenig zu schnell, selten saß sie still.

Weihnachten denke ich nicht an meinen Vater, Weihnachten denke ich an meine Mutter. Weihnachten war immer das Fest meiner Mutter. Wenn das Christkind geklingelt hatte und wieder verschwunden war, ging sie vor uns die Treppe hinunter, O Tannenbaum singend. Mein Vater stimmte immer für zwei Zeilen kurz ein, laut und falsch. Er wusste, dass er laut und falsch sang, ja, er wollte laut und falsch singen. Er ertrug dieses reine Gefühl nicht, dem wir uns hingaben, wie er eigentlich keinerlei Gefühl ertrug nach sieben Jahren Krieg, nach dem Verlust eines Bruders und eines Auges. Nie wieder ertrug er irgendein größeres Gefühl, er hatte ein für alle Mal genug von größeren Gefühlen. Deshalb sang er laut und falsch, aber er hörte sofort wieder damit auf. Meine Mutter sang ihn nieder, und erfügte sich. Weihnachten konnte es Disharmonien nicht geben, Weihnachten regierte die Sehnsucht: Alles möge gut sein. Weihnachten regierte meine Mutter.

So empfinde ich Weihnachten noch heute: die Menschen unter Hochdruck, alle immer ein wenig zu schnell gehend, selten still sitzend, alle damit beschäftigt, die Risse im Leben zu kitten, zu schließen, wegzumachen, manche erfolgreich, manche geradezu verzweifelt scheiternd, irgendwo in den Notaufnahmen der Krankenhäuser oder der Einsamkeit ihrer Wohnungen.

Weihnachten ist, wenn sich alle gleichzeitig nach einer heilen Welt sehnen, nach dem Kindsein, nach Geborgenheit.“