Zunächst einmal: du hast super lange gewartet, bis du wieder was von mir lesen kannst. Ich habe dich ganz schön auf neue Zeilen warten lassen und du ahnst es schon nach den ersten Worten: heute geht’s für mich ums Warten. Wie passend zum Advent, oder?

Und irgendwie erahnte mein Rechner gerade beim Hochfahren auch, worüber ich mir heute so Gedanken gemacht habe. Er „empfing“ mich und meine hippeligen Finger, die unbedingt lostippen wollte, erstmal mit einem Update-Ladebalken… Kennst du? noch mal schnell was nachschauen: update. Noch mal schnell drucken: Virenscan.

Warten werden gerade auch viele in Wartezimmern, vielleicht auch in langen Schlangen vor den Apotheken, am Briefkasten auf die Betriebskostenabrechnung 2021 oder die Stromrechnung 2022, auf die Paketzusteller mit den letzten bestellten Weihnachtsgeschenken, auf das festliche Essen an den Weihnachtstagen und den lang geplanten Besuch zum Fest, auf das neue Jahr 2023 und all das, was es bringen wird… Warten kenne ich, nur kann ich „dank“ meiner unruhigen Ungeduld nicht so gut warten. Wobei sich meine Eltern da immer wieder gern andere Geschichten aus meinen Kindheitstagen erzählen… ich hätte wohl mal seeeehr lange und super geduldig in einer Gaststätte auf meine Kindernudeln mit Tomatensauce gewartet. Seid ihr euch sicher, dass ich das war? Kann ich mir heute gar nicht mehr vorstellen – ich und „Supergeduld“. Ich hab eher den Eindruck, dass ich, als Geduld verteilt wurde, hupend an der roten Ampel stand.

Es gibt eine Episode aus einer Reitfreizeit: ich war mit 25 Mädels als Ehrenamtliche in Großrückerswalde. Für eine Woche. Unterwegs sein, nachdenken, reiten, basteln, quatschen… Jeder Morgen begann mit einem kleinen Gedankenimpuls und zu diesem sollte ich Gitarre spielen. Eines Morgens war ich nicht nur mit der Klampfe dran, sondern auch mit dem Impuls. Alle waren da – nur ich nicht. Ich lag im Bett und hatte tatsächlich verschlafen. Ich höre noch die Stimme der Leiterin durchs Haus dröhnen, fühle den Schreck in meinen Knochen, sehe mich im Schlafanzug in den Gruppenraum wackeln und schlaftrunken meinen Impuls halten. … Nie wieder ist mir das seitdem in Arbeitsbezügen passiert. Um sicher zu stellen, dass ich auf jeden Fall wach war, klingelte mein Wecker bei vielen Seminaren, Fortbildungen und Freizeiten eine Stunde vor dem Tagesstart. Und so bin ich sehr oft die Wartende – denn: ich bin meistens zu früh.

Dies beschäftigte mich auch in den vergangenen Monaten – ich stellte vermehrt fest, dass ich so oft die Wartende bin und ich überlegte zusammen mit meiner Therapeutin, was das für mich bedeutet… ich stehle mir mit meinem „zu früh“ selbst Lebenszeit und mache mich selbst zur Wartenden. Nicht andere lassen mich warten, wenn sie pünktlich sind, sondern ich selbst lasse mich warten. Also übe ich: zu spät kommen. Und ich sage dir: das ist für mich echt ne Challenge. Zu einem Termin wollte ich neulich zu spät kommen – daheim war ich natürlich pünktlich startklar, dann habe ich noch ein paar Minuten in Jacke an der Tür gewartet bevor ich losgefahren bin, nach der Fahrt durch Leipzig war ich trotzdem zu früh am Treffpunkt, also habe ich im Auto vor der Tür gewartet, um zu spät zu klingeln. Rate mal, wer über sich selbst den Kopf geschüttelt hat 😉

Mein neuestes Projekt in Sachen Warten und Geduld siehst du übrigens auf dem Beitragsbild: bei einem Herbstspaziergang habe ich eine Eichel aufgehoben und sie daheim auf Erde gelegt. Seitdem wässere ich sie aller zwei Tage und siehe da: es passiert was. Langsam, geduldig, im eigenen Tempo der Frucht, und ich lerne: Temponeutralität 😉

Einer meiner liebsten Schriftsteller, Rainer Maria Rilke, schrieb 1903 „Über die Geduld“. Mit diesen Zeilen grüße ich dich und wünsche dir einen wunderlichten und zauberfriedlichen, vierten Advent!

Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge, so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben.

Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.